Katarina erzählt von ihrer Flucht aus der Ukraine

Das Foto zeigt die chaotischen Zustände am Bahnhof von Charkiw, die Katarina in ihrer Geschichte beschreibt. Das Bild ist in den Sozialen Medien sehr präsent, die Quelle ist allerdings nicht bekannt. Auf der Seite https://correctiv.org/faktencheck/2022/03/14/ukraine-dieses-foto-zeigt-menschen-am-bahnhof-von-charkiw/?lang=de  wird die Behauptung widerlegt, dass es sich bei dem Foto um ein Fake handeln soll. Wenn man Katarinas Geschichte liest, erscheint diese Behauptung auch völlig unsinnig.

 

Mein Name ist Katarina, ich bin 36 Jahre alt und komme aus der Ukraine. Ich habe drei Kinder – elf, neun und sechs Jahre alt. Und ich möchte meine Geschichte erzählen, wie ich vor dem Krieg geflüchtet bin. 

Wir lebten in der Stadt Charkiw, die 40 km von der Grenze zu Russland entfernt liegt.  Die Bombardierung Charkiws begann sofort am ersten Tag. Ich wachte um 4:30 Uhr auf und hörte die deutlichen Explosionsgeräusche. Durch das Fenster war ein Leuchten zu sehen. Es war der 24. Februar – der Geburtstag meiner jüngsten Tochter. Sie wurde an diesem Tag fünf Jahre alt.
Mein Mann arbeitete in einer Fabrik, die Dämmstoffe produziert und hatte Nachtschicht, deshalb waren wir allein zu Hause. Die Kinder wachten auf und weinten, die älteste Tochter und der älteste Sohn verstanden, dass der Krieg begonnen hatte. Die Jüngste fragte immer wieder, ob wir ihren Geburtstag feiern würden. Na ja, eine Geburtstagstorte im Keller. Dann kam mein Mann von der Nachtschicht. Er sagte, dass die Stadt bereits völlig lahmgelegt sei, Fahrzeuge sich nicht mehr bewegten, Soldaten und militärische Ausrüstung überall seien. Der Lärm der Schüsse und Explosionen verstummte nicht, und noch dazu gesellte sich das ohrenbetäubende Heulen der Luftangriffe. Deshalb zucken viele ukrainische Flüchtlinge im friedlichen Deutschland zusammen, wenn hier Sirenen heulen, um den Alarm zu testen. Wir haben diese Signale in einem echten Krieg an uns selbst getestet.
Die nächste Woche verbrachten wir im Keller. In unserer Gegend gab es keinen richtigen Luftschutzbunker, wir gingen einfach in den Keller unter dem Haus. Das Haus war sehr klein und der Keller kalt und feucht, und einmal sah ich sogar eine Ratte. Außerdem war das Haus sehr alt und ich hatte Angst, dass es durch den Beschuss zusammen mit dem Keller einstürzen würde. Es waren nicht viele Leute da, nur wir und unsere Verwandten, die in der Nähe wohnten. Es war eine schreckliche Zeit. Alle hatten große Angst, aber Panik durften wir nicht zulassen, weil wir Kinder bei uns hatten. Nach ein paar Tagen eines solchen Lebens, als wir bereits völlig durchgefroren waren, wurde mir klar, dass ich Charkiw verlassen musste. Damals hatten wir kein Geld und nur ukrainische Pässe. Mit solchen Dokumenten durften die Flüchtlinge jedoch über die Grenzen reisen.
Es stellte sich heraus, dass es unmöglich war, ein Taxi zu rufen, um zum Bahnhof zu gelangen. Wir hatten kein eigenes Auto, es gab keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Die wenigen Taxis, die man nehmen konnte, verlangten so hohe Preise, dass es unerschwinglich war. Man hatte das Gefühl, wir seien Geiseln und es sei nicht möglich, wegzukommen. Panik setzte ein, aber ich versuchte, nicht nachzugeben – ich habe Kinder. Gott sei Dank konnte ich Freiwillige finden, die uns zum Bahnhof brachten! Ich hatte genau fünfzehn Minuten Zeit, mich fertig zu machen – in dieser Zeit nahm ich eine Tasche mit Dokumenten, Pässen, küsste meinen Hund auf seine nasse Nase und ging zur Tür hinaus. Ich bin seitdem nicht mehr in dieses Haus zurückgekehrt.
Als wir am Bahnhof ankamen, war ich schockiert über die Anzahl der Menschen. Sie waren überall – im Park, auf den Bänken, im Bahnhofsgebäude, auf den Bahnsteigen. Die Züge fuhren unregelmäßig, es gab keinen Fahrplan. Niemand wusste, wie lange es dauern würde. Ich traf eine Frau mit einem kleinen Kind, die die zweite Nacht am Bahnhof verbrachte, weil sie nicht weg konnte. Wir haben lange gewartet. Wir kamen gegen 8 Uhr morgens am Bahnhof an, der Zug kam gegen 15.00 Uhr. Die ganze Zeit über aßen die Kinder und ich nichts, dann fing es an zu regnen, die jüngste Tochter fiel in eine Pfütze. Wir waren nass, schmutzig, hungrig und verängstigt. Kampfjets flogen über uns hinweg, Explosionen erschütterten den Bahnsteig am Bahnhof. Irgendwo weinte ein Kind und irgendwo weinte ein erwachsener bärtiger Mann. Er kam, um seine Frau und seinen Sohn zu verabschieden, und er weinte, weil er nicht wusste, ob er sie wiedersehen würde.
Endlich kam der Zug. Aufgrund der Menschenmenge wurde es beklemmend, die Menschen drängten von allen Seiten. Ich hatte Angst, mit den Kindern in die Menge zu treten, es schien, als würden wir erdrückt werden. Es gab keine Chance, in den lange erwarteten Zug einzusteigen.  Die Wagen waren völlig überfüllt, die Menschen standen mit dem Gesicht zum Fenster und konnten sich nicht bewegen. Ich habe verstanden, dass wir uns dem Zug nicht einmal nähern konnten. Und dann gab es plötzlich eine schrecklich laute Explosion. So stark, dass einige Menschen zu Boden fielen. Der Bahnsteig bebte, die Fenster klirrten, die Ohren waren wie taub.  Meine Kinder weinten nicht einmal mehr, sie standen unter Schock. Ich dachte, sie hätten im Bahnhofsgebäude etwas in die Luft gesprengt. Die Menschen rannten instinktiv vom Zug zum Gebäude und suchten Schutz. Und ich habe meine Kinder in die entgegengesetzte Richtung geschleppt, weil ich dachte, die Station sei gesprengt worden und würde nun einstürzen.
Und plötzlich standen wir vor dem Wagen. Es waren bereits Leute drinnen und die Türen waren geschlossen. Jemand begann an die Fenster zu klopfen, um sie zu öffnen. Plötzlich erschien ein Soldat vor den Waggons, öffnete ein kleines Fenster und rief: „Nur Frauen und Kinder!“ Er fing an, Kinder durch das Fenster zu werfen. So laden sie Säcke mit Kartoffeln auf dem Feld auf. Panik machte sich breit, Eltern verloren ihre Kinder, Kinder weinten, überall herrschte Aufregung. Aber mir wurde klar, dass dies eine Chance war, in den Zug zu kommen. Ich schob die älteren Kinder nach vorne und legte das jüngere mit den Armen um den Hals meines Mannes. Männer durften den Zug nicht betreten, aber ich schrie so heftig, dass sie meinen Mann hineinließen. Ich musste ihn mit meinem Körper schützen, denn hinter uns versuchte jemand, seine Beine zu packen und ihn zurückzuziehen. Sowohl mein Mann als auch alle meine Kinder konnten jedoch durch das Zugfenster klettern. Ich wurde zurückgedrängt, ich hatte Angst, dass sie ohne mich fahren würden. Ich musste mich durchdrängeln, um zum Fenster zu gelangen. Dann blieb ich darin stecken, jemand stieß mich und ich flog kopfüber ins Abteil. Es traf mich hart, aber ich war sehr froh, dass ich hineingekommen war.
Es waren so viele Leute im Wagen, dass nicht jeder einfach auf dem Boden sitzen konnte. Wir fuhren Tag und Nacht im Stehen, vierundzwanzig Stunden, und hielten unsere jüngste Tochter im Arm. Am Morgen hatten wir keine Kraft mehr, wir hatten nicht geschlafen, wir hatten fast zwei Tage lang überhaupt nichts gegessen. Gott sei Dank gab jemand den Kindern Brot und Wasser. Aber wir waren trotzdem froh, dass wir Charkiw verlassen konnten.
Und dann begann ein neues Leben. Wir überquerten ruhig die Grenze zu Europa und gelangten zunächst in die Slowakei. Den Namen der Stadt, in der wir ankamen, weiß ich nicht mehr, aber Freunde brachten uns von dort nach Polen, nach Krakau. Dort blieben wir etwa eine Woche, dann beschlossen wir weiter nach Deutschland zu ziehen, weil in Polen bereits so viele Flüchtlinge waren. Freunde von uns hatten in der Nähe von München Bekannte, die fürs Erste bereit waren, uns aufzunehmen.

Aber das Leben erwies sich als sehr unvorhersehbar. Wir mussten oft umziehen. Zunächst lebten wir bei einer deutschen Familie, konnten aber nicht lange bleiben, da in der Wohnung nicht genug Platz für uns war. Dann gelang es mir, ein Haus zu finden, in dem wir etwa neun Monate lebten, aber es war alt und sollte abgerissen werden. Und dann das unvergesslichste Erlebnis: das Flüchtlingslager. Da war es sehr schwierig. Wir hatten ein winziges Zimmer mit vier Betten für fünf Personen, eine Gemeinschaftsküche, die immer schmutzig war. Ich war ständig auf Wohnungssuche, aber in Bayern ist das sehr schwierig. Das alles geschah in der Nähe von München, in Kleinstädten. Nach zwei Monaten im Lager gelang es mir schließlich, eine Wohnung in einem Dorf in der Nähe von Augsburg zu finden. Dort leben wir jetzt.

Von meinem Mann bin ich mittlerweile geschieden. Als wir aus der Ukraine flohen, hoffte ich, dass sich durch die gemeinsamen leidvollen Erfahrungen vielleicht auch unsere Beziehung verbessern würde. Aber leider ist das Gegenteil geschehen. Der Krieg und die Flucht stellten uns vor neue schwierige Herausforderungen, denen unsere Ehe nicht gewachsen war. Mein Ex-Mann wohnt jetzt noch immer mit uns in der gleichen Wohnung, in einem separaten Zimmer. Eine Wohnung zu finden ist nicht einfach, man muss also Kompromisse eingehen. Aber ich bereue nichts, ich bin für die gemeinsame Erfahrung mit ihm und unsere Kinder dankbar. Aber mein weiterer Weg wird ohne ihn weitergehen.

Ich habe studiert und bin ausgebildete Wirtschaftswissenschaftlerin, aber ich habe praktisch keine Berufserfahrung. Ich schloss mein Studium ab, heiratete sofort und verbrachte viele Jahre zu Hause mit den Kindern. Ich habe es aber geschafft, nebenher ein wenig als Köchin zu arbeiten. Also denke ich, dass ich damit in Deutschland anfangen werde.

Zurzeit besuche ich einen Integrationskurs und warte auf das Ergebnis meiner DTZ-Prüfung. Mein Lehrer glaubt an mich und denkt, dass ich das B1-Zertifikat bekommen werde. Ich hoffe, dass er Recht hat.

Diese Flucht hat mich viel Kraft gekostet, viele Emotionen und Tränen mit sich gebracht. Gleichzeitig habe ich wundervolle Menschen, enge Freunde und sogar gegenseitige Liebe kennengelernt. Aber das ist eine andere Geschichte... 

 

Vielen Dank, Katarina, für den Mut, diese Geschichte hier zu erzählen!