Kenan erzählt von seiner Flucht aus der Türkei

Alles fing am 15. Juli mit einem Putschversuch an, dessen genauer Grund noch unklar war. Am 1. September 2016 wurde ich zusammen mit 50.000 anderen Beamten durch einen Präsidialbeschluss namens "KHK" (Notstandsdekret) ohne jegliche gerichtliche Entscheidung als Regierungsgegner entlassen.

Eine Hexenjagd begann im ganzen Land. Verwandte, Freunde und Nachbarn mieden den Kontakt zu mir und meiner Familie und hatten sogar Angst, uns anzurufen. Meine Schwester, Tanten und Onkel hörten auf mit uns zu sprechen. Unsere Kinder wurden in der Schule ausgegrenzt.

Arbeitgeber hatten Angst, entlassene Personen einzustellen. Ohne jegliche Befragung wurden Menschen rechtswidrig verhaftet. Wir haben Verwaltungsgerichtsverfahren gegen unsere Entlassung eingeleitet, aber unsere Anträge wurden abgelehnt.

Unser Land wurde für mich und meine Familie leider zu einem unerträglichen Ort. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Wir mussten aus dem Land fliehen. Aber wie? Die einzige Lösung schien illegal zu sein. Ich hatte zuvor nie etwas Illegales getan, nicht einmal eine Verkehrssünde begangen. Es war sehr schwer für mich, mich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Aber wenn wir es nicht wagten, bestand die Gefahr, dass ich zusammen mit meiner Frau im Gefängnis landen würde. Unsere Kinder wären alleine zurückgeblieben. Wir fühlten uns einfach nicht mehr wie in unserem eigenen Land. So schwer es auch war, wir trafen die Entscheidung zu flüchten.

Wir nahmen Kontakt zu Menschen auf, die anderen illegal bei der Flucht ins Ausland halfen.  Natürlich war es nicht umsonst. Sie verlangten 4.000 Euro pro Person. Wir waren zu viert, also 16.000 Euro. Wir beschlossen, unser Auto und unser Haus zu verkaufen. Aber wie? Sie erlaubten uns nicht einmal, unser Haus zu verkaufen. Unser Land war die Hölle für uns. Wir gingen durchs Feuer.

Da ich berufsbedingt viel reisen musste, hatte ich meiner Frau per Notar Vollmachten ausgestellt, damit sie einige Dinge in meinem Namen erledigen konnte. Wir fanden es vernünftiger, dass sie das Haus verkaufen würde, da sie nie zuvor gearbeitet hatte. Gott sei Dank hatten wir Glück, und wir konnten das Haus zu zwei Dritteln des Marktwerts an einen Kunden verkaufen. Aber unsere Bankkonten waren gesperrt. Es war schwierig, das Geld zu bekommen. Deshalb mussten wir es uns in bar auszahlen lassen. Das Geld hätte auch gefälscht sein können. Wir hatten jedoch keine andere Wahl.

Ab jetzt war jede unserer Handlungen und Entscheidungen mit Risiken verbunden. Aber wir mussten diese Risiken eingehen. Glücklicherweise war das Geld nicht gefälscht. Ohne jemandem davon zu erzählen, fuhren wir mit zwei Autos über Bergstraßen bis zur Küstenstadt Fethiye am Ägäischen Meer. Dort gingen wir zu dem Ort, den uns die Schleuser genannt hatten. Da es Dezember war, war es kalt und das Meer hatte hohe Wellen. Wir blieben etwa eine Woche dort in einem Haus und konnten nicht nach draußen gehen. Die Männer brachten uns Essen.

Jeden Morgen eine Hoffnung auf Freiheit! Wir warteten einen Tag, zwei Tage und dann ganze sieben Tage. Schließlich war der große Augenblick gekommen. Die Tauben im Käfig sollten endlich frei sein. Wir brachen frühmorgens um fünf Uhr mit zwei Familien und den Schleusern auf. Als wir vom Fluss auf das Meer hinausfuhren, entgingen wir knapp einem Kentern. Das Abenteuer hätte vorzeitig enden können.

Der Kapitän des Bootes und die Männer waren sehr besorgt. Denn sowohl griechische als auch türkische Soldaten der Küstenwache konnten im Winter leicht ein paar Boote auf dem Meer entdecken. Eigentlich hätten wir die Reise mit einem Schnellboot in 45 Minuten schaffen sollen, aber wir haben zwei Stunden gebraucht. Die zwei Stunden fühlten sich an wie zwei Jahre.

Wir erreichten eine griechische Insel, aber schon nach fünfzehn Minuten wurden wir von den Polizisten der Insel festgenommen. Sie brachten uns zur Hafenpolizei. Dort erfuhren wir, dass auch die Schleuser gefasst worden waren. Wir sahen, wie schlimm und schrecklich sie geschlagen wurden. Ihre Augen waren geschwollen. Wir wurden zwei Tage in einem Lagerhaus festgehalten. Der Ort war ungesund und sehr schmutzig, und die Augen der Kinder waren so geschwollen, dass sie sie nicht mehr öffnen konnten. Wir vermuten, dass sie von Insekten gestochen wurden. Es gab auch große Kakerlaken.

Dann brachte uns die griechische Polizei ins Gefängnis, wo auch die Verbrecher einsaßen. Obwohl wir als Familie dort waren, hielt man uns volle zwölf Tage fest. Es war Weihnachten und wir mussten uns lange in sehr kalten Räumen aufhalten, in Militärschlafsäcken mit schmutzigen Decken und Kissen. Die zweijährige Tochter von unseren Freunden war auch dabei. Einige der Wärter waren sehr traurig über unsere Notlage und zeigten großes Verständnis, andere waren jedoch sehr grausam zu uns.

Zweimal durften wir telefonieren. Erst nach 25-30 Tagen konnten wir unseren Eltern sagen, dass wir am Leben waren. Sie hatten sich große Sorgen um uns gemacht, da wir niemandem von unserer Flucht erzählt hatten. Sie hatten sogar befürchtet, dass wir tot sein könnten.

Dann akzeptierte Griechenland unser Asylgesuch und ließ uns frei. Ich möchte vorerst nicht sagen, auf welche Insel wir gekommen sind. Nach einer 16-stündigen Fährfahrt erreichten wir Athen. Wir dachten, alles sei vorbei, aber tatsächlich hatte alles gerade erst begonnen! Da uns die Türkei unsere Pässe abgenommen hatte, konnten wir uns nur mit der von Griechenland ausgestellten Aufenthaltsgenehmigung bewegen. Griechenland verfügte wirtschaftlich und sozial nicht über genügend Ressourcen, um so viele Migranten zu versorgen. Deshalb suchten die Menschen nach illegalen Wegen, um nach Deutschland, Holland, Belgien, Norwegen und anderen Ländern zu gelangen. Wir begannen bald dieselben Wege zu erkunden.

Etwa fünf Monate später erreichten wir Deutschland. Wir dachten, dass alles besser werden würde, aber mein Sohn erkrankte auf der Reise an Lungenentzündung wegen der Kälte und Erschöpfung. Seine Lungen waren stark in Mitleidenschaft gezogen und er war in Lebensgefahr. Unsere Deutschlandreise begann mit einem 15-tägigen Krankenhausaufenthalt in München. Mein Sohn erholte sich erst nach zwei Monaten.

Dann verbrachten wir etwa sieben Monate in einem Flüchtlingslager in Donauwörth. Dort habe ich unsere Geschichte den Behörden in allen Einzelheiten erzählt. Was wir in unserem Land erlebt haben, war ein sozialer Völkermord. Zum Glück wurde unsere Anerkennung als Flüchtlinge in Deutschland schnell akzeptiert.

Nun ging es darum, eine Wohnung zu finden, die deutsche Sprache zu lernen und sich in die deutsche Kultur zu integrieren. Die Schulen unserer Kinder und die Deutschkurse für meine Frau und mich begannen. Meine Frau und ich haben sie sogar bis zum C1-Niveau fortgesetzt. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen durch meinen geschätzten Deutschlehrer, der mir in freundlicher Weise geholfen hat.

Wir haben viele Freundschaften geknüpft. Wir haben viele neue Freunde aus verschiedenen Ländern. Mein Frau und ich können unseren Beruf nicht ganz ausüben, aber wir haben uns in ähnlichen Bereichen weitergebildet. Ich habe einen Abschluss in Finanzen an der Universität und mein Diplom wurde in Deutschland anerkannt. Mittlerweile habe ich eine sechsmonatige Weiterbildung im Rechnungswesen mit einem sehr guten Abschluss absolviert. Deutschland ist im Allgemeinen ein demokratisches Land, aber auch hier können wir manchmal kleine Probleme haben.

Vor kurzem hatten wir während der Jobsuche ähnliche Erfahrungen wie in der Vergangenheit. Bei einem Vorstellungsgespräch wurde ich gefragt, warum ich hierhergekommen sei, obwohl diese Frage gegen die Regeln verstößt. Als ich antwortete, dass es politische Gründe waren, wurden mir viele Fragen gestellt. Eigentlich wollte ich das Vorstellungsgespräch abbrechen, aber ich blieb geduldig bis zum Ende. Natürlich wurde ich nicht eingestellt.

Aber dennoch gibt es auf der Welt auch noch viele gute Menschen. Es gibt Menschen, die uns verstehen, mitfühlen und ohne Vorurteile sind, nette und freundliche Menschen. Und schließlich wurde ich doch eingestellt, als Finanzbuchhalter. Jetzt sieht alles viel besser aus. Ich möchte nicht über Rassismus oder Ausgrenzung sprechen, die wir manchmal erleben. Ich möchte positiv und optimistisch sein und nicht über solche Ereignisse sprechen. So wird das Leben leichter. Tatsächlich will ich viele negative Details auslassen, die ich in meinem Leben erlebt habe. Unser Leben könnte eigentlich einen Roman füllen. Kurz gesagt, das ist alles, was ich erzählen kann als Zusammenfassung. Wenn Sie meine Geschichte lesen und ein wenig Mitgefühl für uns empfinden können, würde uns das glücklich machen. Danke für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.

 

Danke, Kenan, für den Mut, diese Geschichte hier zu erzählen!