Nadia (36) erzählt von ihrer Flucht aus der Ukraine

Ich bin in dem kleinen Ort Wowtschansk in der Nähe von Charkiw an der russischen Grenze geboren und aufgewachsen.

2004 bin ich zum Studium nach Charkiw gegangen und dort geblieben. Sechs Jahre lang habe ich Luftfahrt studiert und einen Abschluss als Luftfahrtingenieurin gemacht, aber nie in meinem Beruf gearbeitet. Das Studium war eigentlich sowieso nicht meine Idee gewesen, sondern eigentlich nur der Traum meines Vaters. Er hatte mir den Studienplatz besorgt, weil er gerne stolz auf mich sein wollte. Allein schon durch den Abschluss habe ich ihm diese Freude gemacht. Wobei man auch sagen muss, dass man in der Ukraine als Ingenieurin bei Weitem nicht das verdient, was man in Deutschland bekommt. Ein Studium ist dort oft eher eine Prestigesache.

Schon während meines Studiums hatte ich nebenher als Geschäftsführerin in einem Bauunternehmen gearbeitet und das dann zunächst auch nach dem Studium weitergemacht. Dafür braucht man in der Ukraine keine Ausbildung. Ich habe Geld verdient, aber es hat mir keinen großen Spaß gemacht. Deshalb habe ich dann angefangen, aus meinem kreativen Talent als Kosmetikerin einen Beruf zu machen. 2013 habe ich mich selbstständig gemacht und in der ersten Zeit noch von zu Hause aus gearbeitet. Durch die Werbung im Internet lief die Sache richtig gut. Am Ende hatte ich einen eigenen Schönheitssalon und eine Schule, in der ich Kurse gegeben habe.

2013 habe ich auch geheiratet. Das war ein Jahr, bevor Russland die Krim annektiert hat. Damals haben wir nicht geglaubt, dass der Konflikt tatsächlich zu einem solchen Krieg eskalieren könnte. Bis 2022 haben wir relativ sorglos in Charkiw gelebt.

Als es dann am 24. Februar letzten Jahres losging, wurden wir um fünf Uhr morgens von Sirenen und dem Bombardement aus dem Schlaf gerissen. Wir hörten die Einschläge der Bomben und im Radio sagten sie, dass die russischen Truppen die nahe Grenze überquert und im Anmarsch auf Charkiw seien. Wir bekamen Panik, rafften reflexartig nur die nötigsten Sachen zusammen, setzten uns ins Auto und fuhren los, ohne zu wissen wohin. Nur weg!

So wie wir dachten die meisten Zivilisten. Die Folge waren lange Autoschlangen und Staus auf den Straßen. Wir versuchten es über Feldwege, durch den Wald, manchmal auch über Wege, wo eigentlich gar keine mehr waren.

Fünf Tage waren wir so unterwegs. Wir schliefen in überfüllten Hotels oder bei „neuen Verwandten“, Menschen, die wir gar nicht kannten, die aber bereit waren zu helfen. Über Radio und Internet waren wir natürlich immer darüber informiert, was gerade passierte.

Auf der Fahrt haben wir fieberhaft überlegt, wo wir hin sollten. Ich habe wild herumtelefoniert, alle möglichen Leute angerufen und mein Stiefvater meinte dann schließlich, ich solle es mal bei seinem Sohn versuchen. Mein Stiefbruder lebt in Mukatschewo. Das liegt in der Westukraine in den Karpaten. Obwohl ich ihn noch überhaupt nicht kannte, rief ich ihn aus dem Auto an und er sagte, er habe eine Wohnung für uns und könne uns aufnehmen.

In Mukatschewo gab es keine Bombenangriffe, aber die Sirenen heulten auch dort und ich habe mich nicht sicher gefühlt. Die Bilder in den Medien machten mir Angst. Also habe ich nach Möglichkeiten gesucht, das Land zu verlassen. Auf Instagram hatte ich 7.000 Follower und habe einfach mal gefragt, wohin ich gehen könnte.

Einige rieten mir nach Polen zu gehen, andere nach Deutschland. Deutschland schien mir sicherer. Dann half mir ein Zufall bei der Entscheidung. Eine meiner Teilnehmerinnen aus einem Kosmetikkurs schrieb mir, dass ihre Mutter in Augsburg lebe. Ich habe Kontakt zu ihr aufgenommen und sie bot mir an, dass ich eine Weile bei ihr wohnen könne.

Fünf Tage, nachdem wir bei meinem Stiefbruder angekommen waren, fuhr ich also alleine mit dem Zug weiter nach Augsburg. Mein Mann durfte ja nicht ausreisen. Zu meinem Stiefbruder habe ich seitdem nicht viel Kontakt. Aber wenn er Hilfe braucht, bin ich jederzeit bereit, ihm zu helfen.

So bin ich also nach Deutschland gekommen. Nach zwei Monaten bin ich dann in Augsburg zu einer anderen Familie weitergezogen. Dort blieb ich wieder einige Zeit und zog dann noch einmal zu einer anderen Familie, bei der ich acht Monate blieb. Die Leute waren alle unglaublich hilfsbereit und nett und ich habe immer noch einen guten Kontakt zu ihnen, aber irgendwann wurde es ihnen dann doch immer zu viel, was ich auch gut verstehen konnte. Es war natürlich sehr schwierig, etwas Passendes zu finden, aber seit März 2023 habe ich nun endlich eine eigene Wohnung.

Mein Mann schaffte es auch noch im Juli 2022 auszureisen. Wie er das gemacht hat, weiß ich nicht. Wir hatten uns eigentlich schon vor unserer Flucht auseinandergelebt und die Monate der Trennung haben das nur verstärkt und beschleunigt. Mittlerweile sind wir geschieden, und er lebt in München. Er hat sein eigenes Leben und einen ordentlichen Job. Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander.
Im April 2022 habe ich angefangen, in einem Integrationskurs Deutsch zu lernen. Aber ich wollte auch immer arbeiten. Deshalb habe ich schon im Oktober mit meinem Jobcenter-Berater darüber gesprochen, mich wieder als Kosmetikerin selbstständig zu machen. Er hielt das für keine gute Idee, meinte, ich könne nicht genug verdienen und solle erst noch weiter Deutsch lernen.

Über einen Bekannten habe ich dann aber einen Steuerberater gefunden, der mir mit den Papieren geholfen hat, um mein eigenes Gewerbe anzumelden. Seitdem arbeite ich wieder selbstständig als Kosmetikerin. Das B1-Zertfikat habe ich trotzdem Ende 2022 geschafft.

Separat von meiner Wohnung habe ich inzwischen noch ein kleines Büro, in dem ich arbeite. Ich gebe auch wieder Kurse, unter anderem auch Online-Kurse, in denen ich Frauen beibringe, wie sie ihr Make-up verbessern können. Ich kann davon leben, aber ich habe auch gemerkt, wie wichtig es doch ist, noch besser Deutsch zu lernen, um auch mehr deutsche Kundinnen zu bekommen. Die Sprache ist tatsächlich das größte Problem.

Mit dem Makeup werde ich auf jeden Fall weitermachen, aber vor kurzem habe ich noch ein neues Ziel gefunden: Ich möchte Krankenschwester werden. Schon in der Jugend, nach dem frühen Tod meiner Mutter, habe ich davon geträumt, Ärztin zu werden. Meine Mutter starb an einem Herzinfarkt, als ich sechzehn Jahre alt war. Damals wollte ich eine gute Kardiologin werden und Menschen retten. Jetzt bin ich wieder auf diese Idee zurückgekommen. Ärztin zu werden, wird wahrscheinlich nicht mehr funktionieren, aber Krankenschwester zu werden ist ein sehr realistisches Ziel. Dafür brauche ich gute Deutschkenntnisse, jetzt habe ich noch mehr Motivation, es zu lernen.
In Deutschland fühle ich mich wohl und sicher und sehe gute Perspektiven für mich. In Charkiw habe ich niemanden mehr, seit mein Papa vor 3 Jahren gestorben ist. Ich bin jetzt frei und auch bereit für eine neue Beziehung. In Deutschland ist es einfacher, eine Frau zu sein, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Ich fühle mich entspannter. Die Männer sind hier völlig anders. Sie sind respektvoller gegenüber Frauen, gepflegter, sportlicher und stabiler.

Ich bin gewohnt zu arbeiten und mir gefällt, dass man in Deutschland Geld verdient, wenn man arbeitet. Wenn man in der Ukraine arbeitet, ist es leider keineswegs sicher, dass man genug Geld zum Leben hat.

In der kurzen Zeit, die ich jetzt hier bin, habe ich schon eine Menge geschafft. Und selbst vermeintliche Fehler brachten mir schließlich Erfahrungen, neue Kontakte und Energie. Mein Rat an alle, die hierher kommen: Mach, woran du Freude hast, geh deinen eigenen Weg. Die Türen sind immer offen.

Was mir hier nicht so gut gefällt, ist die Bürokratie. Aber Bürokratie ist mir immer noch lieber als Korruption. Ich möchte in Deutschland bleiben.

 

Vielen Dank, Nadia, für den Mut, diese Geschichte hier zu erzählen!