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Ahmad (35) erzählt von seiner Flucht aus Syrien

Geboren und aufgewachsen bin ich in Qamischli im Norden von Syrien an der Grenze zur Türkei. Dort habe ich auch zwölf Jahre lang die Schule besucht. Mit dreizehn habe ich angefangen, nach der Schule bei einem Elektriker zu arbeiten. Es war eine schöne und interessante Arbeit und ich habe viel gelernt und auch gutes Geld verdient, manchmal 100 Dollar im Monat. Ich habe dort zwischen acht und neun Jahre lang gearbeitet, meist abends bis 21.00 Uhr. Später habe ich natürlich auch mehr verdient, so ca. 500 Dollar im Monat. Ich habe mir selbst viele Dinge beigebracht, indem ich sie mir im Internet angeschaut habe und konnte auch selbstständig arbeiten. Einmal habe ich für eine chinesische Firma die Elektrik in einer kompletten Zahnarztpraxis alleine verlegt. Sie haben mir einen Plan gegeben und ich habe danach gearbeitet. Das war kein Problem. In der Schule habe ich die Computer repariert. Das habe ich aber natürlich umsonst gemacht.

Ich hatte eine Lehrerin, die mich unterstützte und mir riet, an der Universität zu studieren. Vier Jahre habe ich in Aleppo Handel und Wirtschaft studiert, bis der Krieg kam und meine Universitätskarriere beendet hat. Auch meine Zeugnisse und Papiere von der Uni sind durch den Krieg fast alle verloren gegangen. Ich hatte schon vor dem Krieg nicht in Aleppo, sondern in Damaskus gewohnt und bin immer nach Aleppo zum Studium gependelt. In Damaskus hatte ich auch Arbeit als Elektriker. Ich bin dann dort geblieben, insgesamt zehn Jahre habe ich alleine in Damaskus gewohnt und gearbeitet, ein Jahr lang auch einmal für eine russische Firma, den Rest der Zeit selbstständig. Ich habe gut verdient, hatte ein gutes Leben, konnte mir ein schönes Auto leisten und dachte sogar schon daran, mir ein Haus zu kaufen. Aber dann hat der Krieg alles kaputt gemacht. Anfangs glaubte ich noch, dass der Wahnsinn in ein oder zwei Jahren vorbei wäre, aber es nahm einfach kein Ende.

2018 bin ich nach Qamischli zurück gegangen, da Qamischli weitgehend in kurdischer Hand war, gab es immer wieder Bombardements durch die türkische Armee, die angeblich Jagd auf Terroristen gemacht hat. Ich habe Menschen auf den Straßen liegen sehen, Leichen ohne Köpfe, mit abgerissenen Beinen und Füßen. Einmal ist bei einem Bombenanschlag ein Lkw in die Luft geflogen. Ich habe eine alte Frau auf der Straße gefunden, die noch gelebt hat, habe sie aufgehoben und mit meinem Auto ins Krankenhaus gefahren. Dort ist sie dann gestorben. Danach konnte ich wochenlang nicht mehr richtig schlafen und hatte zum ersten Mal den Gedanken, dass ich meine Heimat vielleicht verlassen könnte.

Als ich einen neuen Pass brauchte, musste ich in Qamischli zur Behörde. Drei Monate später kam dann die Polizei und wollte mich als Kämpfer für Assads Truppen rekrutieren. Zum Glück war ich nicht zu Hause und mein Vater hat sie hingehalten. Als sie weg waren, hat er mich angerufen und gesagt, dass ich nicht nach Hause kommen soll. Ich habe mich dann bei einem Onkel versteckt. In der Zwischenzeit hat mein Vater meine Flucht organisiert. Ich weiß nicht genau, wie er es gemacht hat, aber er hatte viele Kontakte. Nach einem Monat war alles vorbereitet. Ich habe meine Tasche gepackt und meine Eltern und Geschwister zum Abschied geküsst. Seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen.

Zusammen mit fünf anderen Erwachsenen und zwei Kindern von ungefähr zwölf oder dreizehn Jahren sind wir zu Fuß über die Grenze. In einem kleinen Dorf haben wir ca. acht Stunden gewartet, dann kam ein Türke mit einem großen Auto und hat uns nach Izmir gebracht. Dort sind wir einen Tag in einem Haus geblieben, dann ging es weiter mit einem anderen Auto nach Istanbul. Zwanzig Tage konnte ich bei meinem großen Bruder bleiben, der dort schon länger lebte und gültige Papiere hatte. Dann musste ich weg. Ein Mann brachte mich in eine andere Wohnung, wo ich eineinhalb Monate blieb. Mein Vater hatte das alles organisiert.

Am Ende waren wir eine größere Gruppe in dieser Wohnung, sieben Frauen und außer mir noch fünf andere Männer. Ein kleiner Lieferwagen ohne Sitze kam und holte uns ab. Wir mussten unsere Handys abgeben und in den Laderaum klettern. Nach anderthalb Stunden hielt der Wagen auf einem Autobahnparkplatz und wir mussten in einen Lkw umsteigen. Bei uns war auch eine ältere Frau von etwa 60 Jahren, die nicht mehr gut gehen konnte und ich half ihr in den Wagen.

Der Wagen war voller Kiefern, die als Weihnachtsbäume verkauft werden sollten. Wir wurden dazwischen eingeschlossen, mussten auf dem Boden sitzen und hatten kaum Platz und Luft zum Atmen. Ich hatte Angst, aber die alte Frau hat mich beruhigt und mir Mut gemacht. Wir wurden nur notdürftig mit Nahrung versorgt, ein bisschen Brot und ein paar Datteln und es war kalt und wir trugen alle nur Jeans und T-Shirts und froren ganz erbärmlich. Sechzehn Stunden lang waren wir so eingeschlossen.

Dann gab es eine kurze Pause, vielleicht eine Viertelstunde. Wir hatten keine Ahnung, wo wir waren. Danach wurden wir wieder eingeschlossen und fuhren noch einmal acht Stunden.

Schließlich hielten wir unvermittelt an, die Türen wurden aufgerissen und wir standen mitten in der Landschaft, keine Häuser, keine Bäume nichts. Es lag Schnee und war kalt und einer der Männer machte einen Scherz und sagte: „Gute Reise!“, und dann ließen sie uns stehen und fuhren weg.

Nach einer knappen Stunde kam ein alter Lieferwagen, wir quetschten uns auf die Sitze und fuhren etwa neun oder zehn Stunden. Am Abend kamen wir zu einem allein stehenden Haus, wahrscheinlich einem alten Bauernhof. Dort bekamen wir Essen und durften mit einem fremden Handy, das man uns gab, einen kurzen Anruf machen. Ich habe mit meinem Vater telefoniert und er hat mich beruhigt und gesagt, dass alles gut würde. Insgesamt blieb ich mit den anderen Männern eine Woche in diesem Haus, die Frauen, auch die nette alte 60jährige Dame, wurden schon früher weggebracht. Später erfuhr ich, dass wir in Rumänien gewesen waren, in der Nähe von Timisoara.

Wir Männer wurden dann mit einem kleinen Bus abgeholt, in dem sieben Sitze waren. Neben dem Fahrer gehörte zu den Schleppern noch ein weiterer junger Mann und eine Frau von vielleicht Mitte zwanzig. Sie saßen vorn, aber wir sollten nach hinten in den Laderaum in eine Holzkiste steigen, weil es gerade so viele gefährliche Kontrollen gäbe. Es würde aber nur eine Stunde dauern. Ich protestierte, aber meine Leidensgenossen sagten, dass es ja nicht für lange wäre und so gab ich schließlich nach. Wir mussten uns bis auf die Unterhosen ausziehen, weil es sehr heiß in der Kiste war und wir nur ganz dicht zusammengekauert sitzen konnten. Als wir alle drin waren, nagelten sie die Kiste über uns zu und bedeckten sie auch noch mit Teppichen. Es war wie in einem Sarg. Wir hatten kaum Luft und kein Wasser und blieben ungefähr 3 Stunden eingesperrt. Dann machten wir auf einem Autobahnparkplatz eine Viertelstunde Pause. Wir bekamen etwas zu trinken, durften rauchen und konnten uns ein bisschen bewegen. Obwohl ja alles angeblich nur eine Stunde dauern sollte, mussten wir wieder zurück in die Kiste. Sie sagten, es wäre nicht mehr für lange, wir wären bald da.

Es ging aber noch einmal stundenlang. Wir waren alle nass geschwitzt und hatten große Angst, weil wir keine Luft bekamen. Es war dunkel und wir konnten nicht auf die Uhr sehen und verloren jedes Zeitgefühl. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Einer der anderen Männer wurde ohnmächtig und ich dachte, er sei tot, und bekam Panik. Ich fing an zu zittern und konnte mich nicht mehr beherrschen. Also schlug ich wie wahnsinnig gegen den Deckel des Sargs, denn das schien die Kiste ja jetzt wirklich zu sein. Ich wollte einfach nur noch raus aus diesem Grab. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft überhaupt noch hernahm, aber der Deckel schien schließlich zu brechen und da ließen sie mich tatsächlich raus. Aber nur mich, weil ich der Unruhestifter war und sie Angst hatten, durch mich könnten sie auffliegen.

Ich sagte: „Mir ist alles egal, ich will nur noch raus.“ Da gaben sie mir Wasser und auch noch einen eiskalten Kaffee und eine Zigarette. Dann sagten sie: „Du hast dein Ziel erreicht! Die anderen werden noch weiterfahren.“

Ich musste aus dem Auto aussteigen und bekam meine Hose und mein T-Shirt zurück. Ich wollte auch mein Handy. Der ältere der beiden Männer suchte also mein Smartphone aus den ganzen eingesammelten Handys heraus, aber bevor er es mir gab, löschte er noch sämtliche Daten.

In der Hosentasche hatte ich noch 25 Euro, sonst nichts. Meine Flucht hatte eine Menge Geld gekostet, 2.600 Dollar allein der Weg von Syrien in die Türkei, der Rest noch einmal 9.500 Euro. Es war ein kühler Mai-Abend. Wenigstens hatte die junge Frau ein bisschen Mitleid und gab mir eine alte abgetragene Jacke. Es war der 17. Mai 2020, ich war in Augsburg angekommen, aber das wusste ich in dem Moment noch gar nicht.

Ich lief erst einmal völlig planlos durch die Gegend, setzte mich schließlich in die nächstbeste Bahn und kam dann am Königsplatz raus. Dort hörte ich zufällig zwei Männer Arabisch reden. Sie hatten allerdings Angst, sich mit mir abzugeben, weil ich illegal und ohne Papiere war. Immerhin erklärten sie mir, wie ich zum Bahnhof käme, denn ich wollte mich bei der Polizei melden und hoffte dort, einen Beamten zu finden. Ich suchte vergeblich. Aber in der Bahnhofsbuchhandlung half man mir. Der Mann an der Kasse rief jemanden an, einen Juden, der Arabisch sprach und er war sehr freundlich zu mir und brachte mich auch zur Polizeistation.

Dort besorgte man einen Übersetzer, der Kurdisch sprach, ich wurde untersucht, einer Leibesvisitation unterzogen, was ich ziemlich unangenehm fand, und ich bekam auch einen provisorischen Ausweis. Damit sollte ich mich in einer sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung melden. Sie gaben mir die Adresse und wollten mich einfach so losschicken. Ich beschwerte mich, dass ich mich nicht auskennen würde, aber einer der Polizisten sagte nur: „Sie sind doch aus Syrien alleine hierher gekommen, und jetzt schaffen Sie es nicht, alleine in das Lager zu finden!?“

Also habe ich mich in ein Taxi gesetzt und 20 von meinen verbliebenen 25 Euro dafür ausgegeben, in die Erstaufnahme in Lechhausen zu fahren. Schon nach zwei Tagen wurde ich in eine andere Einrichtung verlegt, zuerst innerhalb von Augsburg, später auch noch nach Gablingen. Leider war das mitten in der Corona-Zeit und wir durften das Haus nicht verlassen. In Gablingen war ich insgesamt vierzehn Tage, dann kam ich nach Ulm. Dort war ich zwei Monate und durfte endlich auch raus aus der Flüchtlingsunterkunft und ein bisschen spazieren gehen. Von Ulm kam ich dann im November 2021 in die Einrichtung nach Gersthofen, wo ich jetzt zwar immer noch gemeldet bin, mich aber eigentlich nicht mehr sehr oft aufhalte.

Ein wunderbarer Zufall hat es nämlich so gefügt, dass ich zwei Monate, nachdem ich nach Gersthofen umgesiedelt worden war, in Augsburg im Botanischen Garten spazieren ging und meine jetzige Frau traf. Wir kennen uns schon seit wir in Qamischli zusammen in die Schule gegangen sind, haben uns dann aber aus den Augen verloren. Ich hatte keine Ahnung, dass sie mit ihrer gesamten Familie schon seit sieben Jahren in Deutschland war. Sie sind alle bereits sehr gut integriert, haben fast alle die deutsche Staatsangehörigkeit, sie hat sogar einen C1-Kurs gemacht und die Prüfung auch bestanden, und einer ihrer Brüder hat ein tolles Restaurant in Rosenheim.

Sie und ich trafen uns dann regelmäßig, haben nach muslimischer Tradition geheiratet und mittlerweile auch schon einen neun Monate alten Sohn, auf den wir sehr stolz sind. Die standesamtliche Hochzeit steht noch aus, weil wir dafür noch Papiere aus Syrien benötigen und es nicht so leicht ist, sie zu bekommen. Meine eigene Familie, meine Eltern, meine drei Schwestern und einer meiner Brüder sind immer noch in Syrien und natürlich habe ich regelmäßig Kontakt zu ihnen. Leider ist es nicht möglich, dass sie nach Deutschland kommen. Aber nun habe ich ja zu meinem Glück hier eine neue Familie gefunden. Meine Frau und ich suchen eine neue, größere Wohnung, doch die Wohnungssuche ist im Moment ja nicht nur für uns sehr schwierig.

Seit einigen Monaten besuche ich einen Integrationskurs und hoffe bald, die B1-Prüfung zu bestehen. Dann möchte ich erst einmal den Führerschein machen und eine Weile arbeiten. Ich habe schon ein Praktikum bei einem Elektriker gemacht, der mir versichert hat, dass er mich sehr gut brauchen könne. Dafür sind aber der Führerschein und bessere Deutschkenntnisse notwendig. Auf längere Sicht möchte ich vielleicht auch noch eine Ausbildung machen. Ich sehe auf jeden Fall gute Perspektiven für mich, weil ich es gewohnt bin, selbstständig zu arbeiten, viele Ideen habe und auch gut mit Computern umgehen kann.

Um mehr Kontakt zu Deutschen zu bekommen, habe ich ein paar Monate als ehrenamtlicher Helfer bei der Caritas gearbeitet. Jetzt brauchen sie dort aber gerade niemanden mehr. Eine ältere Dame, mit der ich mich gerne unterhalte, hat mir den Tipp gegeben, es doch einmal bei der Freiwilligen Feuerwehr zu versuchen. Was sie erzählt hat, klang gut, und ich denke, dass ich es einmal ausprobieren werde.

Mein Deutsch muss noch besser werden, aber ich bin froh, dass ich mittlerweile auch schon vieles alleine erledigen kann: Formulare ausfüllen, Termine ausmachen und auch alleine zu den Terminen hingehen und sprechen. Das ist schon nicht schlecht.

Wenn ich anderen Flüchtlingen einen Rat geben sollte, dann den, dass es ganz wichtig ist, viel zu lernen, vor allem die Sprache. Damit hat man hier alle Möglichkeiten.

Für mich ist Deutschland auch jetzt schon so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Ich finde, die Menschen hier sind alle sehr freundlich und lachen viel. Das finde ich schön. Vor allem aber gibt es hier keine Tyrannei und keine Ungerechtigkeit. Ganz wichtig ist für mich mein Sohn. Die Eltern vermitteln den Kindern die Moralvorstellungen, das was im Leben richtig und falsch ist. Und ich will meinem Sohn ein guter Vater sein.

 

Vielen Dank, Ahmad, für den Mut, diese Geschichte hier zu erzählen!