Nour und Fadi erzählen von ihrer Flucht aus Syrien

Wir kommen beide aus Aleppo und sind 2015 nach Deutschland gekommen. Kennen gelernt haben wir uns 2003 während einer zweijährigen Katechetenausbildung. In der katholischen Kirche sind Katecheten so etwas Ähnliches wie Religionslehrer. Wir waren vorher beide schon in unterschiedlichen Gemeinden aktiv, denn der Glaube ist für uns sehr wichtig.

Wir sind der Überzeugung, dass unser menschliches Leben im Wesentlichen aus drei Phasen besteht, die aber nicht unbedingt immer hintereinander ablaufen müssen. Es kann auch sein, dass man nicht alle drei Phasen erlebt oder dass man durch die Lebensumstände in eine vorherige Phase zurückfällt und sie wiederholt.

In der ersten Phase geht es darum, sein Überleben zu sichern: genug zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf zu haben, sich nicht beständig in Lebensgefahr zu befinden.

In der zweiten Phase geht es darum Ziele zu erreichen: zu lernen, zu arbeiten, sich eine sichere Existenz aufzubauen, eine Familie zu gründen.

In der dritten Phase geht es darum, Sinn in seinem Leben zu finden. Diese Phase ist nie abgeschlossen, es ist eine ständige Suche und Entwicklung, bei welcher der Weg das Ziel ist, und wenn man einmal auf diesem Weg angekommen ist, entdeckt man die wahre Freude am Leben. In Syrien waren wir in dieser dritten Phase. Wir hatten unsere Ziele erreicht, eine gute Arbeit, eine kleine Familie, eine eigene Firma, und wir waren mit unserem ehrenamtlichen Engagement in der Kirche auf einem guten und für uns sinnvollen Weg. Dann kam der Krieg.

 

Fadi: Ich habe vier Jahre Chemie studiert und nebenher in einem Labor und einer Fabrik gearbeitet. 2007 habe ich meinen Bachelor-Abschluss gemacht und danach erst einmal eine Weile als Angestellter im Büro einer Firma gearbeitet, die Seife und kosmetische Produkte auf chemikalischer Basis hergestellt hat.

Dann habe ich gesagt: Nein, das gefällt mir so nicht, das muss man besser machen. Aleppo-Naturseife gibt es natürlich auch schon ewig auf dem Markt, die habe ich nicht erfunden, aber es war mein Ziel, Naturseife zu produzieren und deshalb habe ich mich selbstständig gemacht und 2010 eine eigene Firma gegründet. Zuerst habe ich noch ganz klein zu Hause in der Küche angefangen. Das hat tatsächlich funktioniert, ich habe etwas verkauft, und brauchte bald größere Räumlichkeiten.

Mein Vater hatte eine Textilfabrik, dort habe ich einen Raum bekommen, und als er dann seine Firma aufgegeben hat und in Rente gegangen ist, habe ich seine Räumlichkeiten komplett übernommen. Auch einige seiner Mitarbeiter, sechs oder sieben, haben manchmal bei mir ausgeholfen. Ich hatte dann auch einen Laden, sogar mit zwei Verkäuferinnen. Das Geschäft lief gut und wir sind immer weiter gewachsen.

2010 haben Nour und ich dann auch geheiratet.

Nach unserer Katechetenausbildung haben wir jahrelang selbst Kinder und Jugendliche unterrichtet. Die Kirche in Syrien ist viel aktiver als hier in Deutschland, das war sie auch, als dort noch alles in Ordnung war, vor dem Krieg. Es ist also nicht so, dass man sagen könnte, die Leute glauben an Gott, weil sie in Not sind. Ich denke, dass es im Krieg auch viele gibt, die den Glauben verlieren, weil sie sich fragen, wie Gott denn so etwas zulassen kann.

In Syrien gab es vor dem Krieg nicht so viel Armut und Not, man konnte dort gut leben, die Schere zwischen armen und reichen Menschen ging nicht so weit auseinander. Es gab eine große breite Mittelschicht, nicht nur ein Oben und Unten. Aber jetzt scheint es tatsächlich nur noch das Unten zu geben, um nicht zu sagen das „Unterirdische“ tief unter dem Unten!

Muslime und Christen hatten früher ein gutes Leben, waren gläubig, gingen in die Moschee oder in die Kirche und haben friedlich zusammengelebt. Natürlich gab es auch mal Streit, aber das ist ja ganz normal, wie es auch unter Brüdern vorkommt. Auch die Mitarbeiter früher bei meinem Vater in der Textilfabrik waren ungefähr zur Hälfte Christen und zur Hälfte Muslime, und es gab keine Probleme, das war ganz normal.

In der Katechetenausbildung waren wir eine große Gruppe, ca. 500 Leute, die zwei Jahre diese Ausbildung gemacht haben, um dann ehrenamtlich für andere tätig zu sein. Diese freiwillige Arbeit  hat unserem Leben Sinn gegeben.

Wir haben unterschiedliche Gruppen unterrichtet, Kinder vom Kindergartenalter bis zu Jugendlichen, einmal pro Woche eine Stunde Unterricht, auch mit Büchern, aber es hatte mit Schule nichts zu tun. Es war Katechismus-Unterricht, wir haben aber auch mit den Kindern gespielt oder Ausflüge gemacht.

Wenn man den Sinn des Lebens gefunden hat, macht eigentlich alles Spaß, auch die Arbeit. Sinn finden bedeutet aber auch, dass man wächst und sich entwickelt, es gibt nichts Starres, Endgültiges, sondern es muss immer weitergehen.

Das bedeutet für mich auch Erfolg: sich weiterentwickeln. Erfolg kommt von folgen, einen Weg verfolgen, weitergehen, in Bewegung bleiben, das ist natürlich nicht immer mit Spaß verbunden, es kann auch mal anstrengend oder sogar schmerzhaft sein, weil man Dinge und vielleicht auch Menschen auf diesem Weg zurücklassen muss. Jetzt ist es zum Beispiel auch anstrengend für mich, meine Gedanken auf Deutsch zu formulieren, aber wenn ich es dann schaffe und erfolgreich bin, ist es gut und ich freue mich.

Andere Menschen sehen das vielleicht anders, sie setzen sich einfach immer neue Ziele, wenn sie etwas erreicht haben: noch mehr Geld, mehr Luxus, ein größeres Haus, ein schöneres Auto, einen teureren Urlaub. Es war nicht unser Weg, materielle Ziele zu suchen, wir hatten unsere Ziele erreicht und haben etwas anderes gesucht: Sinn.

Das war unser Leben in Syrien. Warum haben wir es zurückgelassen?

Da war natürlich der Krieg, der 2011 angefangen hat, wobei wir in Aleppo davon fast ein Jahr lang nicht wirklich betroffen waren. Dann kamen die Flüchtlinge zu uns nach Aleppo, Binnenflüchtlinge. Wir haben sie auch bei uns im Viertel betreut, mit Essen und allem versorgt, was sie brauchten, Spenden gesammelt und ihnen auch zusammen mit dem JRS, dem Jesuit Refugee Service, so gut es ging geholfen.

2012 wurde dann unser erster Sohn Antonie geboren. Leider verschlimmerte sich aber auch die Situation in Aleppo. Die Stadt wurde eingekesselt, zeitweise gab es keinen Strom, kein Wasser. Einmal war Antoine im Kindergarten, als eine Bombe direkt daneben einschlug. Wir hörten, dass ein Kind in einem anderen Kindergarten gestorben sei. Nour war in der Schule, als sie von der Bombe hörte und hat natürlich sofort die Schule verlassen und ist dorthin und mein Vater war auch schon dort. Klar, sie wollten natürlich nach Antoine sehen.

Aber eigentlich ist es schon Wahnsinn: In so einer Situation wissen die Menschen einfach nicht, wo sie hinsollen und laufen dann einfach irgendwohin. Dabei wäre es viel vernünftiger, zu Hause zu bleiben. Auch auf Nours Schulhof ist damals eine Bombe gefallen, aber zum Glück am Abend, als niemand mehr dort war.

Aber es waren nicht nur die Bomben. Auch die Ernährungssituation war schlecht. An einem Tag gab es zum Beispiel in ganz Aleppo nichts anderes zu essen als Zucchini. Es gab keine Windeln, keine Babynahrung, keine Medikamente, die ganze Versorgungslage war miserabel.

Trotz alldem wollten wir eigentlich nicht das Land verlassen, sind erst mal geblieben, aber schließlich haben wir dann doch entschieden, dass wir raus müssen, dabei haben wir vor allem auch an unser Kind gedacht.

Wir sind getrennt geflüchtet. 2015 bin ich in den Libanon gegangen, nach Beirut. Dann bin ich mit dem Flugzeug nach Istanbul, wo ich drei Tage blieb. Von dort ging es in eine Stadt an der Mittelmeerküste, um nach Griechenland überzusetzen. Den Namen der Stadt weiß ich gar nicht mehr, aber ich blieb dort zwei Wochen.

Als ich dann wusste, dass es endlich losgehen sollte, stand ich am Meer und habe ins Dunkel geschaut. Es war zwei Uhr nachts und mir ging durch den Kopf, dass erst am Tag zuvor ein Boot gekentert und alle Insassen ertrunken waren, ungefähr fünfzig Leute. So viele sollten auch in unserem Boot sein, einem Schlauchboot, das eigentlich nur für zehn Leute ausgelegt war. Niemand von meinen Leuten in Syrien wusste, dass ich mit diesem Boot fahren würde, ich hatte es ihnen nicht erzählt. Wenn ich ertrinken würde, würden sie vielleicht nie erfahren, was aus mir geworden wäre.

Ich habe gedacht: Schau mal, wo wir waren und wo du jetzt bist. Da denkt man nicht mehr an Ziele und Erfolg, da denkst du nur noch, dass du jetzt in dieses Boot mit fünfzig anderen Leuten einsteigst, die du nicht kennst, und dass du vielleicht in einer halben Stunde stirbst und niemand von den Menschen, die du liebst, davon erfährt, wo du geblieben bist.

Ich hatte schon in Istanbul 2.000 Euro für diese Überfahrt bezahlt. Dabei hatte ich die Wahl, ob ich 1.000 Euro für ein überfülltes Schlauchboot zahle oder 2.000 für eine angeblich sicherere Überfahrt in einem guten Boot. Ich habe die sichere Variante gewählt, aber es war einfach nur ein großer Betrug der Schleuser, denn es saßen schließlich doch alle in einem Boot, ob man nun 1.000 oder 2.000 Euro bezahlt hatte. Man hatte nur die Wahl einzusteigen oder zurückzubleiben und die Betrüger wussten ganz genau, dass wir keine andere Chance hatten, wenn wir nicht umkehren wollten.

Wir stiegen also ein und durften nichts mitnehmen außer den Dingen, die wir am Leib trugen: Geld, Papiere, Smartphone, Kleidung. Am Tag konnte man von der Küste aus die griechische Insel sehen, die wir ansteuern sollten. Es waren nur sieben oder acht Kilometer. Normalerweise hätte das vielleicht zehn Minuten gedauert. Aber es ging nicht auf direktem Weg wegen der Polizei und der Küstenwache. So wurden es dann über drei Stunden voller Angst in dem überfüllten Boot. Natürlich waren auch Frauen und Kinder an Bord.

Ich weiß nicht mehr, wie die Insel heißt, auf der ich angekommen bin, jedenfalls ging es von dort mit einem großen Schiff ganz legal weiter nach Athen. Dort haben wir ein Dokument bekommen, das besagte, dass wir in Athen bleiben dürften.

Athen ist schön, wir konnten uns dort frei bewegen, konnten uns dort zu mehreren ein Haus mieten, insgesamt waren wir acht Leute zusammen in dem Haus. Trotzdem hat jeder versucht, weiter nach Europa hineinzukommen, weil die Situation in Griechenland insgesamt nicht so gut war. Es gab dort einfach schon zu viele Flüchtlinge. Wenn es dann einer geschafft hat, ist wieder jemand Neues nachgerückt ins Haus.

Ich wollte von Anfang an nach Deutschland. Das war das Ziel, die zweite Phase, wenn man so will. Griechenland war nur der erste Schritt, das Überleben. Damals hat Deutschland ja auch noch Flüchtlinge akzeptiert, die in einem anderen Land der EU angekommen waren. Als Frau Merkel ihren berühmten Satz gesagt hat: „Wir schaffen das“, war ich aber schon da.

Ich musste noch mit falschen Papieren von Athen aus weiterreisen. Beim ersten und beim zweiten Mal wurde ich erwischt und war jeweils für einen Tag im Gefängnis, beim dritten Mal hat es dann aber geklappt. Ich bin mit falschen Papieren in einer Touristenmaschine nach Polen geflogen, nach Warschau. Jeder der Versuche hat mich 1.000 Euro gekostet, insgesamt habe ich also 3.000 Euro dafür bezahlt.

Ich glaube, dass sie manche einfach durchgelassen haben, es war so eine Art Glücksspiel. Insgesamt war ich eineinhalb Monate in Griechenland. Von Polen aus bin ich aber durch den Familiennachzug ganz legal nach Deutschland gekommen, denn Nour war da schon hier.

 

Nour: Ich habe in Aleppo vier Jahre französische Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte studiert und den Bachelor gemacht. Danach habe ich noch angefangen, den Master zu machen und ein Jahr Vorlesungen besucht, aber die Abschlussarbeit für den Master nicht mehr geschrieben, sondern angefangen zu arbeiten. Neben dem Studium hatte ich auch schon viel Nachhilfe gegeben. Ein Jahr lang habe ich in Teilzeit als Vertretungslehrerin gearbeitet und Schwangerschaftsvertretung gemacht. Das war natürlich befristet. Danach musste ich dann noch eine Prüfung ablegen, bevor ich eine Vollzeitstelle als staatliche Lehrerin erhielt. Zuerst habe ich an einer Realschule, die letzten acht Jahre an einem Wirtschaftsgymnasium unterrichtet. Insgesamt habe ich elf Jahre als Lehrerin in Vollzeit gearbeitet. Ich selbst hatte schon als Vorschulkind Französischunterricht an einer Privatschule.

Also: 2002 habe ich meinen Bachelorabschluss gemacht und 2003 Fadi kennen gelernt. 2010 haben wir geheiratet und 2012 kam Antoine zur Welt. Ich habe praktisch die ganze Schwangerschaft durchgearbeitet. Ich hatte vier Monate Mutterschutz, aber dann kam auch schon der Krieg und Teile von Aleppo waren kaputt. Nach dem Mutterschutz musste ich noch zwei Wochen arbeiten, dann waren auch schon wieder Sommerferien, die in Syrien drei Monate lang dauern. Ich hatte also Glück, dass ich fast sieben Monate bei meinem Kind bleiben konnte. Später, als ich wieder gearbeitet habe, hat meine Schwiegermutter auf Antoine aufgepasst.

Dann haben wir die Entscheidung getroffen, das Land zu verlassen und Fadi ist in den Libanon gegangen.

Ich hatte durch meine Fremdsprachenkenntnisse die Möglichkeit, ganz legal zu einem Kirchentreffen nach Italien zu fliegen. Insgesamt waren wir drei Frauen, die dorthin durften. Innerlich hatte ich schon entschieden, dass ich nicht mehr zurück wollte und hatte mit den Verantwortlichen von der Kirche abgesprochen, dass ich Antoine mitnehmen durfte. Von Italien bin ich dann auch ganz legal nach Deutschland geflogen. Auch das habe ich mit den Kirchenvertretern abgesprochen, aber erst in Italien. Ich habe den Leuten von der Kirche gesagt, dass mein Mann nicht mehr in Syrien ist und ich auch nicht mehr dorthin zurück will.

Fadi war da schon im Libanon. Für meine Italienreise musste ich auch zuerst in den Libanon reisen, weil die Flughäfen in Syrien nicht mehr funktionstüchtig waren. Ich hatte mich für ein Jahr von der Schule beurlauben lassen. In Syrien darf man das für insgesamt fünf Jahre, bekommt es aber immer nur von einem aufs andere Jahr genehmigt und muss es dann wieder neu für ein Jahr beantragen. Ich bin also vor der Italienreise schon früher mit Antoine in den Libanon, um noch ein bisschen Zeit mit Fadi verbringen zu können.

Nachdem wir uns dort getrennt hatten und ich nach Italien gegangen war, gab es immer wieder längere Zeiten, in denen ich nichts von ihm gehört habe. Die anderen beiden Frauen, die mit mir zu dem Kirchentreffen gereist waren, gingen wieder zurück nach Syrien, aber ich bin nach München geflogen. Nach der Landung habe ich direkt mit der Polizei gesprochen und um Asyl gebeten.

Ich war aber nur einen Tag in München, anschließend eine Woche im Lager in Donauwörth und dann ging es auch schon nach Hollenbach, wo wir seitdem sind.

Wir wurden hierher verteilt und ich war zuerst mit einer anderen Familie zusammen in Hollenbach. Diese Familie war aus Russland oder Aserbaidschan, aber sie waren nicht lange bei uns, denn ihr Asylantrag wurde abgelehnt und sie wurden ausgewiesen.

Insgesamt war ich nach unserem Treffen im Libanon etwa drei Monate von Fadi getrennt. Nach unserem Asylantrag hat es ungefähr neun Monate gedauert, bis er angenommen wurde. In der Zeit durften wir noch keinen Sprachkurs machen, aber wir haben schon alleine angefangen zu lernen, haben Bücher bekommen und einfach auch Kontakt zu den Leuten hier aufgenommen, auf der Straße, auf dem Spielplatz, überall. Wobei ich zuerst nur Kontakt zu Leuten hatte, die Französisch sprachen. Damals war die Caritas für uns zuständig. Ich habe denen gesagt, dass ich gerne mehr Kontakt hätte, dann kam ich in die MuKi-Gruppe (MuKi = Mutter-Kind), aber eine hat mir nicht gereicht, also bin ich dreimal pro Woche in drei verschiedene Gruppen gegangen. Dort gab es auch zwei Mütter, die Französisch sprachen. Das war schon ganz gut. Auch eine Frau, die ehrenamtlich mit Flüchtlingen arbeitete und Französisch sprach, hat mich ab und zu besucht.

In Hollenbach in der Schule gab es auch Deutschunterricht von ehrenamtlichen Helfern. Dorthin habe ich auch Antoine mitgenommen. Ich glaube, er hat sehr gelitten, denn das war furchtbar langweilig für ihn.

Dadurch dass wir alleine gelernt hatten, konnten wir nach einem Einstufungstest direkt mit einem A2-Kurs anfangen. Wegen Antoine haben wir uns zuerst abgewechselt, einer im Vormittags-, einer im Nachmittagskurs.

2016 war er schon im Kindergarten und wir konnten zusammen in den B2-Kurs gehen. Damals war ich auch schon schwanger mit Josef, der kurz nach dem B2-Kurs geboren wurde. Dann war ich eineinhalb Jahre zu Hause mit dem Kind. In der Zeit hat Fadi angefangen, sich selbstständig zu machen. Als Josef in den Kindergarten kam, habe ich Fadi erst einmal im Geschäft geholfen.

2023 habe ich die C1-Prüfung gemacht, ganz ohne Deutschkurs, einfach nur die Prüfung. Ich wollte Sozialarbeit studieren, dafür brauchte ich C1 für die Hochschule. Ich habe Trainingsmaterial gekauft und alleine gelernt und die Prüfung auch auf Anhieb bestanden. Dann habe ich einen Monat studiert und wieder aufgehört, denn das war sehr schwierig mit den Kindern und der Arbeit im Geschäft und der fremden Sprache, das war einfach zu viel. Aber durchs Schulamt habe ich sehr bald eine Arbeit als Lehrerin in der Brückenklasse für Flüchtlingskinder bekommen.

 

Fadi: Ich habe nach dem B2-Kurs zuerst einmal bei der IHK, also der Industrie- und Handelskammer, einen Existenzgründerkurs gemacht. Eigentlich sollte er drei Jahre dauern, aber ich habe nur ein Jahr gemacht. Ich habe dort gesessen und kein Wort verstanden: Buchhaltung, Steuerfragen …, die Deutschen haben aber auch nichts verstanden und mich manchmal sogar gefragt. Jedenfalls habe ich 2017 am Ende doch den Abschluss geschafft.

Und im Januar 2018 habe ich die Firma angemeldet. Die Produktion startete in Affing-Bergen. Nour hat zwei Tage die Woche dort geholfen, und seit 2019 haben wir jetzt auch schon den Laden in Hollenbach.

In der Region sind wir ziemlich bekannt, es gab ja ein paar Zeitungsartikel über uns. Wir kennen auch alle hier im Dorf und alle kennen uns, vielleicht kennen wir mittlerweile sogar mehr Hollenbacher als die Hollenbacher selber.

Für uns ist das normal. Wir kennen das aus Syrien, dort kennen sich auch alle und wir haben unsere Art von dort mitgebracht. Wir haben uns auf der Straße und dem Spielplatz viel mit den Leuten unterhalten, sie einfach angesprochen. Für die Leute war das vielleicht manchmal ein bisschen komisch, aber trotzdem waren sie immer sehr offen.

Wenn man auf die Menschen zugeht, ist es vielleicht auf einem Dorf leichter Kontakt zu bekommen als in der Stadt. Deshalb sind wir auch hier geblieben. Ich war direkt schon 2015 im Elternbeirat im Kindergarten, da habe ich eigentlich noch kein Wort verstanden. Ich war da allein mit vier Frauen und sie „ratschten“, wie das eben so üblich ist, und ich sprach Englisch mit ihnen.

Aber irgendwie waren wir ja auch in Syrien überall aktiv, das wollten wir hier auch, auch wenn es natürlich viel schwieriger ist.

 

Nour: Es ist schwierig, wieder seinen Platz im Leben zu finden, seinen Sinn zu finden. Das dauert Jahre. Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig würde, ich hatte schwere Jahre, weil ich meinen Platz nicht mehr fand.

Deshalb haben wir manchmal gesagt: Im Krieg war der Sinn für uns einfacher zu finden, weil wir helfen konnten. Ich habe oft gedacht: Hier sitze ich als Flüchtling, nicht wirklich gewollt von den anderen und niemand braucht mich. Das ist ein schlechtes Gefühl.

 

Fadi: Ich finde, der Bedarf an Sinn ist hier nicht nur für uns, sondern für alle größer. Alle suchen nach etwas, aber es ist hier schwieriger zu finden als in Syrien. Dort suchen sie jetzt verzweifelt nach der Existenzgrundlage, hier haben die Leute das, aber sie finden keinen Sinn.

Für uns war es hier wichtig, auch erst einmal wieder das Überleben zu sichern, Arbeit zu finden, wir mussten von 0 anfangen.

Hier in Deutschland kann man sich gut beschäftigen; die Menschen sind mit allem Möglichen beschäftigt, mit Skifahren, Urlaub, Ziele erreichen, aber eben meistens nicht mit anderen Menschen, sondern nur jeder mit sich selbst. In Syrien haben wir uns mit den anderen beschäftigt. Sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, macht die Menschen leer, sie haben materiell alles, was sie brauchen und schlagen nur noch ihre Zeit tot. Wenn man nur noch mit Arbeit beschäftigt ist, um noch mehr materielle Dinge zu erreichen, merkt man vielleicht gar nicht, dass einem doch eigentlich das Wichtigste fehlt, weil man gar keine Zeit hat, darüber nachzudenken.

 

Nour: In Syrien konnten wir mit unserer Katechetentätigkeit auch anderen Menschen helfen, ihren spirituellen Bedarf zu decken, das können wir hier nicht, dazu fehlt das Interesse der Leute. Vor dem Krieg war die Arbeit nicht alles für uns, aber hier ist die Arbeit schon der Mittelpunkt im Leben. Das ist hier aber bei den meisten Menschen so, weil die Arbeit ihnen das Gefühl von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gibt. Das gibt den Menschen ihre Sicherheit. In Syrien waren wir gewohnt, alles zusammen zu machen, zusammenzuhalten, das war unsere Sicherheit.

Uns fehlt hier der Lebensmittelpunkt außerhalb der Arbeit. Wir sind hier praktisch die ganze Woche über nur zu viert zusammen, das ist auch etwas komisch für uns. Auch am Wochenende unternehmen wir meistens nur etwas mit der Familie. Uns fehlen hier Freunde, Verwandte, auch wenn wir hier im Vergleich zu anderen Flüchtlingen wahrscheinlich recht viele Kontakte haben, viele Leute kennen, aber die Beziehungen sind doch meistens eher oberflächlich.

 

Fadi: Mein Bruder ist zwar auch hier in Deutschland, aber er ist mit seiner Familie in Essen und wir sehen uns nur ein oder zweimal im Jahr. Seine Frau konnte erst nach fast zwei Jahren nachkommen. Sie haben auch einen Sohn, der Antoine heißt. Das ist in Syrien so Tradition, dass der erstgeborene Sohn den Namen des Opas erhält.

Sonst haben wir vor allem Kontakt zu Deutschen, zu anderen Flüchtlingen eigentlich gar nicht. Am Anfang, als die erste große Flüchtlingswelle kam, habe ich als Übersetzer im Landratsamt ausgeholfen mit Englisch und Arabisch, aber jetzt habe ich dafür keine Zeit mehr und der Bedarf ist auch nicht mehr so groß.

 

Nour: Das Leben in Syrien ist auch spontaner als hier, hier braucht man für alles einen Termin. Wenn man sich treffen will, zückt jeder seinen Kalender, in dem er alle Termine bis nächstes Jahr notiert hat. Ich habe natürlich auch Termine, für die Arbeit, die Kinder, aber ich kann nicht alle meine privaten Termine schon für längere Zeit planen. Die Spontaneität fehlt hier, deshalb ist das für uns irgendwie kalt, auch wenn wir so viele Leute kennen. Der Unterschied zwischen den Kulturen ist einfach immer noch da.

 

Fadi: Und natürlich ist es auch noch anstrengend für uns, wenn wir uns über tiefergehende Dinge unterhalten wollen, da sind wir nach anderthalb Stunden total müde.

Wir haben hier unser Überleben gesichert. Die meisten Menschen denken, dass das das Wichtigste im Leben ist, aber für uns ist der Sinn das Wichtigste. Und auch bei den meisten anderen Flüchtlingen ist es so: Sie kommen hierher, und wenn sie ihre Existenzsicherung haben, dann setzen sie sich Ziele, eine bessere Wohnung, ein größeres Auto, immer weitere Ziele. Aber Leben ist nicht nur Überleben, hier kann man als Flüchtling überleben, aber wirklich zu leben ist viel schwieriger. Darüber spricht niemand, wenn es um Flüchtlinge geht. Alle sagen: Sie haben doch zu essen und zu trinken und Schutz! Was wollen sie denn noch mehr? Aber das haben auch die Tiere hier. In dem Wort „überleben“ steckt ja irgendwie auch drin, dass man das Leben sozusagen „übergeht“, ja dass man das Wichtigste vielleicht verpasst.

 

Nour: Ich habe hier eigentlich sogar mehr Angst als im Krieg in Syrien. Ich habe hier nicht das Sicherheitsgefühl. Es ist gar nicht die Ausländerfeindlichkeit, die gibt es hier auf dem Dorf nicht, zumindest spüren wir persönlich sie hier nicht. Aber wir bekommen es natürlich schon mit in den Medien. Als wir am Anfang ferngesehen haben, haben wir nicht viel verstanden, aber wir haben immer die Wörter „Asyl“ und „Flüchtlinge“ gelesen, auch wenn wir auf andere Sender umgeschaltet haben, überall die gleichen Wörter, man hatte das Gefühl, dass nur darüber gesprochen wurde. Bis dann Corona kam.

Aber die Ausländerfeindlichkeit macht mir nicht wirklich Angst. Es ist vielmehr das Gefühl, dass ich das Leben hier nicht schaffe. Es ist eine eher unbestimmte Angst, weil das Leben hier sehr kompliziert für mich ist. Natürlich bietet es viele Vorteile, aber um diese Vorteile zu bekommen, ist es auch ein harter Weg.

Auch das Leben im Syrien von heute kann man natürlich nicht mehr mit dem Leben vergleichen, das wir dort hatten. Dort kann man heute leider keine Vorteile mehr sehen, höchstens vielleicht noch in spiritueller Hinsicht.

Rein formal sind wir seit August 2023 deutsche Staatsbürger, auch die Kinder. Für Josef hatten wir bei der Geburt auch noch Asyl beantragt. Wir haben dann für ihn zusammen mit dem Asylbescheid sofort auch eine Verpflichtung bekommen, dass er einen Integrationskurs besuchen muss. Das war natürlich Unsinn, weil er ja noch ein Baby war, aber so ist manchmal eben die deutsche Bürokratie.

Insgesamt war die Bürokratie aber kein so großes Problem für uns. Das kam erst mit der Selbstständigkeit, das war dann schon schwieriger. Aber beim Asylantrag hatten wir Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern. Was uns aber schon auffällt: Alles geht hier sehr langsam, der Asylbescheid kam zum Beispiel erst nach neun Monaten, wobei er bei uns noch deutlich schneller kam als bei vielen anderen.

 

Fadi: Um noch einmal auf das Wesentliche zu sprechen zu kommen: Die Beschäftigung mit ihren Zielen, dem Haus, dem Auto, dem Urlaub, lässt den Menschen keine Zeit zum Denken. Wir haben unser Überleben jetzt gesichert und Ziele erreicht. Wir haben eine Familie und den Laden. Wir haben unsere Existenzgrundlage. Jetzt suchen wir wieder nach dem Sinn. Wir machen hier im Laden jetzt auch regelmäßig Meditationskreise, sprechen über die Bibel. Aber es ist schwierig über unsere Erfahrungen zu sprechen.

Ich sehe die Bibel als ein großes Geschenk. Dabei ist es für mich nicht wichtig, ob ich an Jesus als eine historische Person glaube oder nicht, ob ich daran glaube, dass Jesus tatsächlich gelebt hat oder nicht. Das, was in der Bibel steht, ist auf jeden Fall ein Geschenk für mich. Es ist egal, ob er tatsächlich über das Wasser gelaufen ist, wichtig ist, dass ich dadurch „über das Wasser laufen“, kann. Das ist etwas anderes als Religion, das ist Glaube, nicht Religion. Ich bin nicht religiös, aber ich glaube.

Ich bin nicht auf eine Religion fixiert, ich glaube, dass jede Religion zu Gott führen kann, und dass man ihn auch ganz ohne Religion finden kann.

Jede dieser Geschichten in der Bibel bedeutet etwas für mein Leben. Dafür spielt es keine Rolle, ob sie wirklich passiert sind oder nicht. Es ist wie mit guter Literatur, man könnte sagen, wir meditieren mit Literatur, nicht nur mit der Bibel. Auch der Koran, ja alle Heiligen Schriften wollen uns etwas sagen für unser jetziges Leben, und dabei geht es nicht um irgendwelche Fakten.

 

Nour: Bei den Meditationskreisen sagen wir Freunden und Bekannten und allen, die Interesse haben, dass sie einfach dazukommen sollen. Wir wollten auch immer, dass der Laden hier mehr wird als nur ein Geschäft. Er soll einmal eine Art Treffpunkt oder Ort der Begegnung werden. Die Bücherei in Hollenbach wollte zum Beispiel auch schon einmal eine Lesung hier veranstalten, aber ich weiß noch nicht wann.

 

Fadi: Ein bisschen Sinn finde ich natürlich auch in meiner Arbeit, indem ich nachhaltig produziere und etwas für die Umwelt tue. Aber ich bekomme dafür ja auch Geld. Deshalb ist es für mich eben doch nur Arbeit und eigentlich keine Sinnerfüllung.

Ich habe so viel bekommen in meinem Leben und kann hier leider noch nicht so viel zurückgeben, weil mich die Sprache und die Kultur noch behindern.

Ich möchte mit der Kirche zusammenarbeiten, aber hier haben die Leute auch eine andere Einstellung zur Kirche. In Syrien sehen die Christen ihre Kirche weniger kritisch, haben eine positivere Einstellung dazu. Das liegt vielleicht auch ein bisschen an der Geschichte hier in Europa, den Kreuzzügen, dem Ablasshandel, den Religionskriegen. Auch heute sind die Kirchen in Europa oft einfach nur kalt, ohne Freude. Da gibt es keine wirklichen Feiern. Die Leute sitzen da und bekommen von oben herab eine Erklärung geliefert. Das macht keinen Spaß. Spaß bedeutet Kontakt und Gemeinschaft. Gerade für Flüchtlinge ist das wichtig, da sie oft alleine zu Hause sitzen.

Wir waren 2023 als deutsche Staatsbürger noch einmal  in Syrien und haben gesehen, dass wir erst einmal nicht mehr zurückgehen können. Wir wollen, aber wir können nicht. Allein schon wegen der Kinder und der politischen Situation im Land.

Wir kennen das Land und hatten keine Angst. Wenn man im Schlauchboot über das Meer gekommen ist, kann einem so etwas keine Angst mehr machen.

Die Situation dort ist sehr schlecht. Trotzdem hatte ich ursprünglich mal die Idee, auch in Syrien meine Seife für das Geschäft hier zu produzieren. Mein Gedanke war, dass die Leute dort Arbeit brauchen. Wir wollten helfen. Aber das geht nicht. Die Infrastruktur ist kaputt, kein Strom, kein Wasser, die Leute haben keine Zeit zum Arbeiten, weil sie tagelang Schlange stehen, um ein Brot zu bekommen. Es gibt Diebstähle und Kriminalität.

Unser Traum war eigentlich immer, den Leuten nicht nur Arbeit zu geben, sondern auch eine Ausbildung zu ermöglichen. Viele Kinder in Syrien können jetzt auch nicht lesen und schreiben. Sie müssen schon arbeiten. Es gibt jetzt Millionen Kinder in Syrien, die nicht lesen können. Und weil ihnen die Bildung fehlt, sind diese Menschen dann sehr leicht zu lenken und zu manipulieren und zu radikalisieren. Man gibt ihnen ein bisschen Geld und dann tun sie alles, was man ihnen sagt.

Wenn ich in Syrien produzieren wollte, müsste ich auch sehr oft dort sein. Das wäre auch sehr schwierig. Und wir müssen jetzt auch schauen, dass das Geschäft hier erst einmal läuft. Der Krieg in der Ukraine macht sich auch jetzt in unserem Laden bemerkbar. Die Leute haben weniger Geld, um nachhaltige Bio-Produkte zu kaufen.

Wir haben praktisch keine Laufkundschaft, sondern verkaufen größere Mengen an Großhändler, an Läden, die es dann weiterverkaufen. Natürlich kommen hierher auch Leute, die uns kennen und etwas kaufen, aber der meiste Umsatz läuft über andere Händler, wie zum Beispiel über Weltläden. Durch den Ukraine-Krieg sind aber auch einige der Händler weggefallen, durch Insolvenz oder Geschäftsaufgabe.

Die Akquise ist auch schwierig. Es gibt eben immer noch dieses Misstrauen wegen der Sprache und Herkunft. Die Leute denken: Der kann nicht richtig Deutsch sprechen und will eine eigene Firma haben, wie soll das gehen! So etwas erlebe ich immer wieder.

 

Nour: Unser Syrien-Besuch war sehr bewegend und vor allem auch wichtig für unsere Eltern, weil wir so schnell und so plötzlich weg waren und sie uns so viele Jahre nicht gesehen hatten. Nach acht Jahren war das Wiedersehen schon sehr besonders.

Deshalb wollen wir versuchen, es auch dieses Jahr wieder zu machen. Wir wollen versuchen, regelmäßig hinzufahren, natürlich auch damit die Kinder ihre Großeltern und ihre Wurzeln kennen lernen.

 

Fadi: Ja, wir träumen schon davon, irgendwann vielleicht wieder in die Heimat zurückzugehen und den Menschen dort zu helfen, wenn die Kinder groß sind und die politische Situation es erlaubt. Aber vielleicht werden wir das auch gar nicht mehr erleben. Deshalb machen wir hier das Beste daraus. Ich habe mich jetzt für einen Kurs angemeldet, eine Ausbildung zum spirituellen Begleiter bei den Jesuiten, eine zweijährige Ausbildung. Dafür muss ich erst einmal ein Bewerbungsverfahren mit vier Phasen durchlaufen. Das wird nicht so einfach für mich. Ich mache mir keine so großen Hoffnungen, denn ich glaube, dass man für so eine Ausbildung eine andere Sprachebene braucht, die ich vielleicht noch nicht ganz habe.

In Syrien war das gar kein Problem, da musste ich mich gar nicht bewerben, sondern da ist man auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich so etwas machen will.

Na ja, ich werde es auf jeden Fall versuchen und wenn ich es beim ersten Mal nicht schaffe, dann eben beim zweiten oder dritten Mal. Es ist mir einfach wichtig, auf dem richtigen Weg zu sein …

 

Vielen Dank, Fadi und Nour, für den Mut, diese Geschichte hier zu erzählen!